Zeitschrift für Versicherungswesen, vom 2. Oktober 2017

Wie wird die Digitalisierung die Kfz-Versicherung verändern? Der Wandel kommt, aber anders als erwartet. Dies zeigte die K-Tagung 2017.

Einfach, übersichtlich und schnell sind Benutzung und Service bei Amazon, Uber und Facebook. Und bei Versicherungen? Aus Kundensicht ist der Kontakt wenig freudvoll. Wer einen Versicherungsvertrag erwirbt, muss sich durch einen mühseligen Zeichnungsprozess quälen. Wenn ein Schaden passiert, hat man eine Meldung auszufüllen und muss dann auf Kostenübernahme hoffen. „Das entspricht nicht mehr den Gewohnheiten heutiger Kunden“, sagte Linden Holliday, CEO des britischen Start-ups MyDrive. Die Versicherungsbranche habe sich zu lange abgeschottet und kaum Manager aus anderen Berufsfeldern angeworben, die neue Ideen hätten einbringen können. „Die Branche ist überreif für eine Disruption“, bilanzierte Holliday auf der K-Tagung, die SCOR Global P&C und Meyerthole Siems Kohlruss am 5. September 2017 in der Kölner Flora unter dem Motto „Kraftfahrt unter Strom – Digital und kein Zurück“ ausrichteten. Man solle endlich die Grenzen die Branche durchbrechen, forderte Holliday. So könnten Versicherer zum Beispiel gemeinsame Produkte mit Google und Carsharing-Diensten erarbeiten – ganz nach dem Vorbild eines Herstellers von Fitnesstrackern, der mit Apple und Google eine produktive Allianz eingegangen ist. Oder wie wäre eine App für Pendler, die, vergleichbar mit einem Navi, anzeigt, wann man mit dem Auto aufbrechen sollte, um trotz aktueller Staus und Sperrungen rechtzeitig zur Arbeit zu gelangen? Wer nicht rasen muss, baut weniger Unfälle; gut für die Kunden, gut für den Versicherer. Holliday sieht seinen Ansatz, der Versicherungsbranche zu einer zeitgemäßen Servicefreundlichkeit zu verhelfen – verknüpft mit innovativen Geschäftsmodellen – sogar im Wort „Versicherung“ selbst angelegt, komme es doch vom lateinischen securus, „sorgenfrei“. Ob die Branche es will oder nicht: Die Digitalisierung wird alles verändern; besser also das Heft des Handels wieder in die Hand nehmen.

Veränderungsdruck, hin zur Digitalisierung, kommt auch aus der internationalen Politik. 2015 hat die internationale Staatengemeinschaft in Paris beschlossen, die Erderwärmung auf unter 2 Grad zu begrenzen. Die nötigen Schritte sind drastisch. Bis 2050 müssen die Industrieländer ihren CO2-Austausch in den Bereichen Bauen, Energie und Verkehr auf null reduzieren, wie Volker Blandow (Global Head of E-Mobility, TÜV SÜD AG) ausführte. Für den Autoverkehr ist dies nur durch einen Umstieg auf neue Antriebsformen zu erreichen: Die Abkehr von fossilen Brennstoffen – hin zu Elektroautos. Sie zu entwickeln, fördert die Digitalisierung von Fahrzeugen (und der damit verbundenen Versicherungen).

Der klimapolitisch geforderte Umstieg bringt weitreichende Folgen, nicht allein für Autobauer und -versicherer. Um den Akku eines Elektrofahrzeugs aufzutanken, reicht eine haushaltsübliche Steckdose nicht aus. Die Stromleitungen in der Wand würden gefährlich überhitzen; zugleich kann die nötige Ladeenergie gar nicht erreicht werden. Wer Elektroautos für den Massenmarkt fordert, muss flächendeckend neu elektrifizieren – deutlich stärkere Stromleitungen installieren, nicht nur an zentralen Aufladestationen entlang von Autobahnen, sondern auch in Wohngebieten. Ein gewaltiger Aufwand. Blandow rechnet daher Fahrzeugen, die mit Wasserstoffzellen betrieben werden, größere Chancen zu. Zwar fällt ihr Wirkungsgrad geringer aus. Allerdings ließe sich das heutige Tankstellennetz unaufwändig umrüsten – einschneidende Baumaßnahmen wie für Elektroautos fielen nicht an.

Während für Deutschland die Abkehr von „Verbrennern“ noch ein Planspiel ist, ist sie in Skandinavien, dem Vorreiter für Elektroautos, schon gelebte Realität. Allerdings ist der Markt für entsprechende Fahrzeuge in den nordischen Ländern bei weitem nicht einheitlich, wie Ann Sommer, CEO beim schwedischen Versicherer Länsförsäkringar Sak, erläuterte. Dies liege hauptsächlich daran, dass die Steuern und Subventionen von Land zu Land unterschiedlich ausfallen. Schweden etwa liegt weit hinter Norwegen zurück, das deutlich mehr Elektrofahrzeuge verkauft. Die Marktentwicklung wird von mehreren Faktoren bestimmt. Die Autoindustrie hat den Wandlungsprozess aktiv mitgestaltet und beschleunigt. Allerdings kann die Versicherungsbranche nur auf wenig Schadenstatistiken zurückgreifen. Doch klar ist: „Der Versicherungsschutz für Elektrofahrzeuge hat sich verteuert“, sagte Sommer.

Wer die digitale Wende will, muss sich auch mit ihren Gefahren befassen. Die Datensicherheit von vernetzten Kfz kann allerdings nicht separiert betrachtet werden, wie Wolfram-F. Schultz (Global Practice Group Leader Heavy Industries & Manufacturing, Chief Underwriting Office Corporate Liability, Allianz Global Corporate & Specialty SE) ausführte. Vernetzte Kfz seien nur ein kleiner Teil des Ökosystems „Internet of Things“, das auf dem Weg ist, sich zu einem allumfassenden „Universum“ zu entwickeln. Über den Dongle, die zentrale Hardwareschnittstelle in den heutigen, elektronisch hochgerüsteten Autos, ließen sich viele Fahrzeuge hacken und teilweise fremdsteuern: Viele Sicherheitslücken – weitreichender Entwicklungsbedarf.

Über praxisorientierte Forschung mit einer Zukunftstechnologie referierten Christoph Meurer (Abteilungsleitung Produktbereich Schaden/Unfall, Itzehoer Versicherungen) und Carina Götzen (leitende Beraterin, Meyerthole Siems Kohlruss). In einem Pilotprojekt, das beide Unternehmen zusammen mit dem Förderverein VM4K.de umsetzen, wurden reale Telematikdaten mathematisch modelliert. Der immense Input – die „Big Data“ – wurde mit Hilfe von Singulärwertzerlegung, eines Algorithmus, für die Analyse handhabbar gemacht und „Fahrerprofile“ extrahiert, prägnante Verhaltensmuster. Das Verfahren ermöglicht eine Verdichtung der Daten und damit deutlich schnellere Rechenzeiten. Dabei ist es möglich, eine sehr große Anzahl an Merkmalen zu verwenden – zum Beispiel durch die detaillierte Betrachtung der Beschleunigungswerte bei Abbiege- oder Überholverhalten. Im Modell können die Komponenten, aus denen die Fahrerprofile zusammengesetzt, beliebig neu kombiniert werden. Die Profile korrelieren signifikant mit der klassisch ermittelten KH-Prämie. In weiten Teilen ließe sich die bisherige Tarifierung durch „Fahrerprofile“ ersetzen. Die Tarifierung ist das Kernstück der heutigen Kfz-Versicherung. Das Rüstzeug für einen beherzten Neuanfang wäre also da.

Nur eine Frage der Zeit ist eine Umwälzung, die alle Versicherer grundlegend treffen wird: das autonome Fahren, bei dem das Auto nicht mehr von einer Person gelenkt wird, sondern von einer Software. Zu Unfällen wird es wohl auch dann noch kommen. Doch wer haftet? Rechtsanwalt Stefan Segger (Partner bei INCE & Co Germany) erläuterte die verschiedenen Haftungsszenarien und nannte die Halterhaftung nach § 7 Abs. 1 StVG als den Schlüssel, um die bei automatisiertem Fahren verbleibenden Restrisiken in Kauf zu nehmen. Er rechnet damit, dass die Fahrerhaftung künftig verschwinden wird, ohne dass die Kfz-Versicherung damit überflüssig würde oder der Opferschutz herabgesetzt wird. In der Schadenregulierung wird es künftig darauf ankommen, ein größeres Augenmerk auf Produktrückrufe und Serienschäden zu legen.

Personenschäden werden also auch künftig reguliert werden müssen. In der heute gängigen Praxis fehlt meist eine ausreichende und qualitativ hochwertige Datenbasis, wie Olav Skowronnek (Geschäftsführer, Actineo GmbH) festhielt. Sie wäre die Voraussetzung für Prädiktionsmodelle. Ohne diese blieben viele aktuelle Fragestellungen in der Personenschadenregulierung unbeantwortet. Die Modelle, ist Skowronnek überzeugt, können nur im Zusammenspiel zwischen VR und Dienstleister entwickelt werden; die Modelle könnten Reserveprognosen für einen Großteil der Schadensegmente ermöglichen. Ebenso würden zukünftig automatisierte Bearbeitungsprozesse durch den Einsatz von Prädiktionsmodellen unterstützt; das Risiko der Über- und Unterregulierung könnte deutlich eingeschränkt werden.

Die Digitalisierung verändert die Branche. Sie bringt automatisierte, präzisere und für die Kunden vermutlich wohl auch komfortablere Formen der Regulierung. Doch zugleich muss sich die Versicherungswirtschaft auch mit der verstörenden Tatsache von Terrorattacken auseinandersetzen, bei denen Autos als Waffen eingesetzt werden. Diese Gefahr wird auch durch einen Umstieg auf das Digitale nicht gebannt sein.

Die Anzahl derartiger Terrorangriffe hat sich in den letzten anderthalb Jahren stark gehäuft, wie Reka Fuchs (Claims Manager, SCOR) und Nicole Hustig, (Aktuarin DAV (CERA), SCOR) herausstellten. Die Deckungs- und Haftungsfrage wird in den europäischen Ländern sehr unterschiedlich gehandhabt. Obwohl vorsätzliche Taten von der Deckung unter einer Kfz-Police in der Regel in den meisten Ländern ausgeschlossen sind, können sich dennoch Konstellationen ergeben, bei denen der Kfz-Haftpflichtversicherer verpflichtet ist, zumindest für einen Teil der Entschädigungsleistung aufzukommen. Darüber hinaus sind Terrorakte in vielen europäischen Ländern nicht grundsätzlich von der Deckung in den Kfz-Haftpflichtpolicen ausgeschlossen, so auch in Deutschland. In einigen europäischen Ländern gibt es staatliche Mittel, um die Opfer solcher Attentate zu entschädigen, z.B. in Frankreich, Belgien und Spanien. So wurden die französischen Opfer der Nizza Attacke in 2016 aus einem staatlichen Fond entschädigt. Die Verkehrsopferhilfe in Deutschland war ursprünglich nicht für Entschädigungsleistungen nach Terroranschlägen gedacht. Unter zusätzlicher Berücksichtigung der in jüngster Zeit angestiegenen Anzahl von Terrorakten besteht ein zunehmender Diskussionsbedarf hinsichtlich der Entschädigungsleistung für die Opfer solcher Taten.